Betriebsverfassungsrecht: Anfechtung der Betriebsratswahl

BAG 1 ABR 6/55 vom 2. Nov. 1955

Leitsatz

1. Die innerhalb des Betriebsrats nach § 27 BetrVG erfolgenden Wahlen können bei erheblichen Verstößen, insbesondere gegen § 27 BetrVG in entsprechender Anwendung des § 18 BetrVG angefochten werden, und zwar auch von jeder im Betrieb vertretenen Gewerkschaft.

2. Der Betriebsrat darf von der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nur dann abweichen, wenn dafür vernünftige sachliche Gründe sprechen.

3. Die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gilt auch dann, wenn der Betriebsrat durch Gemeinschaftswahl gewählt ist.

Gründe

Der durch Gemeinschaftsliste am 24. und 25. März 195 gewählte Betriebsrat der Zeche W., bestehend aus 13 Arbeitern und 2 Angestellten, wählte in der Sitzung vom 31. März 1955 den Arbeiter B. zum 1. Vorsitzenden und entgegen den Forderungen der Angestellten, die den stellvertretenden Vorsitzenden zu stellen wünschten, den Arbeiter W. zum stellvertretenden Vorsitzenden.

Die Antragstellerin sieht in dieser Wahl einen Verstoß gegen § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, während der Betriebsrat an seiner im Protokoll vom 31. März 1955 niedergelegten Begründung, dass die beiden Angestellten im Betriebsrat nicht grubenbefahrungsfähig seien, festhält,

Ihren in den Vorinstanzen zurückgewiesenen Antrag,

den Beschluss des Betriebsrats der Zeche W. vom 31. März 1955 aufzuheben und festzustellen, dass der Stellvertreter des Betriebsratsvorsitzenden von der Gruppe der Angestellten zu stellen ist,

verfolgt die Antragstellerin mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde weiter.

Die Rechtsbeschwerde war zurückzuweisen.

A.

Im ersten Teil ihres Antrags, mit dem die Antragstellerin die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden als gegen § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verstoßend angreift, ist eine Anfechtung der Wahl zu sehen.

Dieser auf Anfechtung der Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gerichtete Antrag ist von der Antragstellerin als einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft befugtermaßen gestellt worden. Der Antrag ist in entsprechender Anwendung des § 18 BetrVG zulässig. Er ist auch fristgemäß gestellt. Er ist aber nicht begründet.

I. Die Antragstellerin ist zur Anfechtung befugt. Wenn überhaupt die im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene Anfechtung der innerhalb des Betriebsrats nach § 27 BetrVG erfolgenden Wahlen möglich ist, so kann sich das nur aus einer entsprechenden Anwendung des § 18 BetrVG ergeben, Dann aber ist, wie der Senat schon für die Anfechtung der Wahl von Arbeitnehmern zum Aufsichtsrat im Beschluss vom 03. Dezember 1954, AP Nr. 3 zu § 76 BetrVG, entschieden hat, § 18 BetrVG in seiner Gesamtheit entsprechend anzuwenden. Es hat daher auch jede im Betrieb vertretene Gewerkschaft das Recht zur Wahlanfechtung.

Die entsprechende Anwendung des § 18 BetrVG auch auf die nach § 27 BetrVG innerhalb des Betriebsrats vorzunehmenden Wahlen ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Auch innerhalb des Betriebsrats handelt es sich um eine Wahl. Auch bei dieser Wahl sind Verstöße gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren denkbar, mögen auch nicht so eingehende Regeln bestehen, wie bei der Wahl des Betriebsrats. Solche Verstöße dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn Dietz in Rdn. 6 zu § 27 die Rechtsfolge einer sachlich nicht gebotenen Abweichung von der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 darin sieht, dass dann einer entsprechenden Auflage des Arbeitsgerichts im Beschlussverfahren gemäß eine Neuwahl stattfinden müsse, so meint er damit (§ 27 Rdn. 12), dass die erste, unter Verletzung des § 27 Abs. 1 Satz 2 erfolgte Wahl nichtig sei. Denn bei Verneinung der Möglichkeit der Wahlanfechtung kann eine Neuwahl nur in Betracht kommen, wenn die erste Wahl nichtig war. Es ist aber nicht einleuchtend, dass ein Verstoß gegen die Sollvorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 u.U. stärkere Rechtsfolgen haben könnte, als der Verstoß gegen wesentliche Vorschriften im Sinne des § 18 BetrVG.

Keine Lösung des Problems ist es auch, wenn Galperin (§ 27 Rdn. 3), Fitting/Kraegeloh (§ 27 Rdn. 14), LAG Bremen (BB 1953, 622), LAG Hamm (RdA 1954, 40), LAG Hannover (BB 1954, 441) bei absichtlicher willkürlicher Vergewaltigung der Minderheit, bei Verstößen gegen die demokratische Grundordnung oder gegen die guten Sitten, Nichtigkeit der Wahl des betreffenden Vorsitzenden des Betriebsrats annehmen. Unter solchen Voraussetzungen kann die Wahl wegen dieser Verstöße nichtig sein. Es handelt sich dann aber nicht um eine Folge des Verstoßes gegen die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 als solche.

Für die Zulassung der Anfechtung spricht auch das praktische Bedürfnis. Wenn Fitting/Kraegeloh (§ 27 Rdn. 7) und Dietz (§ 27 Rdn. 12) ein solches praktisches Bedürfnis unter Hinweis auf § 23 BetrVG verneinen, so wird dabei übersehen, dass der Ausschluss des unter Verletzung von § 27 Abs. 1 Satz 2 gewählten Betriebsratsvorsitzenden nach § 23 BetrVG meist gar nicht möglich sein wird. Denn die Pflichtverletzung und der Gesetzesverstoß mag die Wählenden, aber jedenfalls nicht den Gewählten allein treffen. Wenn man aber als einziges Hilfsmittel gegen eine Verletzung des § 27 Abs. 1 Satz 2 nur die Auflösung des ganzen Betriebsrats hätte, so wäre die hierdurch hervorgerufene Störung der innerbetrieblichen Ruhe keine adäquate Folge einer Verletzung der Sollvorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2. Auch würde eine erstmalige Verletzung des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG u.U. noch keine grobe Verletzung gesetzlicher Pflichten bedeuten. Es kommt hinzu, dass die Auflösung des Betriebsrats auch die Betriebsratsmitglieder treffen würde, die entsprechend der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 gewählt haben.

Viel richtiger und zweckmäßiger ist die analoge Anwendung des § 18 auf die Wahl innerhalb des Betriebsrats, wie sie aus ähnlichen praktischen Erwägungen heraus bereits die Landesarbeitsgerichte München (Betrieb 1954, 88), Stuttgart (BB 1953, 735) und Frankfurt/M. (Betrieb 1954, 655) vorgenommen haben; die beiden letztgenannten Gerichte nur hinsichtlich der Anwendung der Frist von zwei Wochen. Da die Wahl des Betriebsratsvorsitzenden und des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden der letzte Akt der Wahl und der Konstituierung des Betriebsrats ist, ist es auch systemgemäß, den die Wahlanfechtung regelnden § 18 noch für die Wahl der Betriebsratsvorsitzenden anzuwenden.

Die Zulassung der Anfechtung hat überdies den großen praktischen Vorzug, klare Verhältnisse und Rechtssicherheit zu schaffen. Die Anfechtung ist an eine verhältnismäßig kurze Frist gebunden und muss ausdrücklich rechtzeitig geltend gemacht werden. Nichtigkeit der Wahl kommt nur in ganz, besonderen Ausnahmefällen in Frage, in denen gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsmäßigen Wahl in so hohem Maße verstoßen ist, dass auch der Anschein einer Wahl nicht mehr vorliegt, vgl. den Beschluss des erkennenden Senats BAGE 1, 318.

Die Anfechtung ist, da die angefochtene Wahl am 31. März 1955 stattgefunden hat und der Antrag am 07. April 1955 beim Arbeitsgericht eingegangen ist, rechtzeitig erfolgt.

Für die Frage der Anfechtbarkeit der Wahl der Betriebsratevorsitzenden kommt es somit darauf an, den Sinn und die Tragweite des § 27 Abs. 1 Satz 2 zu bestimmen. Es ist richtig, dass die Norm in bewusster Abweichung von der entsprechenden Mussvorschrift des Betriebsrätegesetzes von 1920 als, Sollvorschrift gefasst worden ist. Zwar ist die allgemeine Ansicht zutreffend, dass die Verletzung einer Sollvorschrift keine Nichtigkeit des Geschäfts bewirkt. Aber damit ist keineswegs gesagt, dass die Verletzung einer Sollvorschrift keinerlei negative rechtliche Folgen haben könne. So wird in steigendem Masse betont, dass die dispositiven (ergänzenden) Rechtsnormen, die noch schwächer sind als die Sollvorschriften, nicht schlechthin und beliebig abgedungen werden können, Auch die nachgiebigen, vom Gesetzgeber wohlerwogenen, aus der normalen Interessenlage der Parteien geschaffenen Rechtssätze haben eine bestimmte Ordnungsfunktion. Auch sie verlangen Respekt, allerdings nicht den gleichen wie das ius cogens. Die Parteien dürfen von nachgiebigen Rechtssätzen dann und insoweit abweichen, als dafür triftige sachliche Gründe, namentlich aus der besonderen, vom Gesetz nicht zugrunde gelegten Bach- und Interessenlage vorliegen. Die Abweichung muss durch die rule of reason gerechtfertigt sein. Die Änderung der nachgiebigen Bestimmungen muss inhaltlich nach Maßgabe von Treu und Glauben und der Gerechtigkeitsgedanken der durch den Vertrag ausgeschalteten oder modifizierten gesetzlichen Regeln die Interessen beider Teile angemessen berücksichtigen. Das ist das im "freiheitlichen, sozialen Rechtsstaat" des Grundgesetzes, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit in den Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung, der Achtung der Rechte anderer und des Sittengesetzes schützt, maßgebende Prinzip, (vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allg. Teil, 14. Aufl., S. 187). Das gilt erst recht für "Sollvorschriften", die wie hier eine wichtige soziale Punktion haben, nämlich die eines gewissen Minderheitenschutzes bei der Wahl innerhalb des Betriebsrates. Der Gesetzgeber hat in § 27 Abs. 1 Satz 2 nicht nur einen Wunsch ohne jede Rechtsfolge ausgesprochen, sondern er hat eine Vorschrift gegeben, die im Regel fall zu beachten ist und deren Nichtbeachtung die Anfechtung der Wahl ermöglicht. Wohl aber ist die Wahl nicht schlechthin an die genannte Vorschrift gebunden. Sprechen für die Abweichung von § 27 Abs. 1 Satz 2 vernünftige und sachliche Gründe, die den Betriebsrat bestimmt haben, so kann von der Regel des § 27 Abs. 1 Satz 2 abgewichen werden Es mag mitunter schwierig sein, eine solche Feststellung zutreffen, ob vernünftige Gründe zur Abweichung von § 27 Abs. 1 Satz 2 vorgelegen haben. Unmöglich ist aber eine solche Feststellung keineswegs, insbesondere dann nicht, wenn wie hier, die Gründe, die zur Abweichung von der Regel des § 27 Abs. 1 Satz 2 geführt haben, in der Niederschrift festgehalten worden sind. Die Frage ist also entgegen der Ansicht des LAG Frankfurt/Main (SAE 1954, 148) durchaus justiziabel. Im Streitfall hat der Betriebsrat, wenn die Wahl angefochten ist, die Beweislast, dass vernünftige sachliche Gründe vorgelegen haben, den Vorsitzenden und seines Stellvertreter aus der gleichen Gruppe zu wählen.

Die Stellung des Betriebsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters ist auch keineswegs so belanglos, dass die unsachliche Verletzung des § 27 Abs. 1 Satz 2 ohne Rechtsfolge bleiben könnte. Zwar wiegt die Stimme des Betriebsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters bei Abstimmungen nicht stärker als die jedes anderen Betriebsratsmitgliedes, aber der Betriebsratsvorsitzende und, in dem stets möglichen Fall seiner Verhinderung, sein Stellvertreter haben die Beschlüsse ces Betriebsrats zu vollziehen, mit dem Arbeitgeber und mit außerbetrieblichen Stellen zu verhandeln. Er übt mithin ein innerhalb der Betriebsverfassung nicht unwichtiges Amt aus.

II. Die Wahlanfechtung ist jedoch im vorliegenden Fall unbegründet.

Die Tatsache, dass hier keine Gruppenwahl, sondern eine Wahl nach Einheitsliste stattgefunden hatte, schließt allerdings eine Wahlanfechtung nicht aus. Die Bestimmung des § 27 Abs. 1 Satz 2 gilt auch darin, wenn - wie hier - keine Gruppenwahl, sondern eine Gemeinschaftswahl stattgefunden hatte. Der Ansicht von Frey, Die Nachprüfbarkeit von Wahlen im Betriebsrat, Arbeit und Recht 1954, 90, dass § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG überhaupt nur bei der Gruppenwahl gelte, weil bei der Gemeinschaftswahl zwar Angehörige beider Gruppen im Betriebsrat vorhanden seien, aber nicht als gewählte "Vertreter" ihrer Gruppe, hat sich der Senat nicht angeschlossen. Denn das Betriebsverfassungsgesetz macht nirgends die den einzelnen Gruppen eingeräumten Rechten davon abhängig, dass eine bestimmte Form der Wahl durchgeführt worden ist (vgl. Dietz, § 27 Rdn. 6). Man kann die von Frey vertretene Ansicht auch nicht etwa aus § 12 Abs. 2 BetrVG herleiten. Denn, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 20. Oktober 1954 in 1 ABR 17/54, AP Nr. 1 zu § 76 BetrVG entschieden hat, findet § 12 Abs. 2 auf die Gemeinschaftswahl keine Anwendung.

Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass der Betriebsrat von der Grubenbefahrunfähigkeit der beiden Angestelltenvertreter ausgegangen ist und aus diesem Grund keinen der beiden Angestellten zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gewählt hat. Damit stand also für das Revisionsgericht, ohne dass es in eine Nachprüfung der tatsächlichen Voraussetzungen dieser Feststellung hätte eintreten können, fest, dass der Betriebsrat, als er von der Regel des § 27 Abs. 1 Satz 2 abwich, von vernünftigen und sachlichen Gründen ausgegangen war. Denn es ist nach allgemeiner Erfahrung in der Tat notwendig, dass nicht nur der Vorsitzende, sondern auch der Stellvertreter des Betriebsratsvorsitzenden in Zechen grubenbefahrfähig sein muss.

B.

Für den zweiten Teil des im Verfahren gestellten Antrags, nämlich festzustellen, dass der Stellvertreter des Betriebsratsvorsitzenden von der Gruppe der Angestellten zu stellen sei, fehlt es an einem Rechtsschutzinteresse, nachdem die Entscheidung dahin ausgefallen ist; dass es bei der Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden vom 21. März 1955 zu verbleiben hat, und auch nichts dafür spricht, dass in absehbarer Zeit der jetzige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende ausfallen könnte.

Die Rechtsbeschwerde musste nach alledem erfolglos bleiben.