Betriebsverfassungsrecht: Anfechtung der Betriebsratswahl

BAG 1 ABR 7/55 vom 5. Juli 1956

Leitsatz

1. Die Wahl des Betriebsratsvorsitzenden oder seines Stellvertreters kann dann angefochten werden, wenn die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verletzt worden ist, ohne dass die Abweichung von dieser Vorschrift aus objektiven Gründen betrieblich sachlich gerechtfertigt ist.

2. Es kommt dabei nicht darauf an, warum die einzelnen Betriebsratsmitglieder entgegen der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gewählt haben. Eine Erforschung, wer wen gewählt hat, und welches die Wahlmotive waren, ist unzulässig. Entscheidend ist lediglich, ob das Wahlergebnis selbst durch objektiv betriebliche Gründe tatsächlich gerechtfertigt ist, wenn von der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abgewichen wurde.

3. Ist ein Angestellter auf der Arbeiterliste von den Arbeitern im Wege der Gruppenwahl in den Betriebsrat gewählt worden, so gilt der so Gewählte insoweit, d.h. betriebsverfassungsrechtlich, als Arbeiter. Ein zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden auf der Arbeiterliste gewählter Werkmeister gilt daher betriebsverfassungsrechtlich in jeder Beziehung als Vertreter der Arbeitergruppe, die ihn gewählt hat.

Gründe

Bei der Firma T. AG wurde am 25. April 1955 eine Betriebsratswahl nach dem Gruppenwahlprinzip durchgeführt. Gewählt wurden 14 Arbeiter- und 3 Angestelltenvertreter. In der konstituierenden Sitzung am 29. April 1955 wurde der Monteur L. zum Betriebsratsvorsitzenden und der Werkmeister R. zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Beide waren auf der Arbeiterliste gewählt worden.

Die Antragstellerin ist der Auffassung, die Wahl verstoße gegen die Vorschrift des § 27 Abs. 1, Satz 2 BetrVG, nach der der Vorsitzende des Betriebsrats und sein Stellvertreter nicht der gleichen Gruppe angehören sollen. Sie stellte deshalb beim Arbeitsgericht am 11. Mai 1955 den Antrag, die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden für ungültig zu erklären.

Durch Beschluss des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 20. Mai 1955 wurde der Antrag abgewiesen. Auf die Beschwerde der Antragstellerin hob das Landesarbeitsgericht Bayern, Sitz Nürnberg, durch Beschluss vom 19. August 1955 den Beschluss des Arbeitsgerichts auf und erklärte die im Betriebe der T. AG, am 29. April 1955 durchgeführte Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden für ungültig. Die Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss wurde zugelassen.

Der Beschluss wurde dem Antragsgegner am 22. August 1955 zugestellt. Er legte am 03. September 1955 mit Gründen versehene Rechtsbeschwerde ein. Der Antragsgegner rügt Verletzung des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Es handele sich hier lediglich um eine Sollvorschrift, deren Verletzung keine Rechtsfolgen zeitige. Insbesondere werde hierdurch nicht die Gültigkeit der Wahl beeinflusst. Das habe das Beschwerdegericht verkannt.

Der Antragsgegner beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Antrag, die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden für ungültig zu erklären, zurückzuweisen.

Die Antragstellerin bittet, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist nicht begründet. Denn die Ansicht des Antragsgegners, ein Verstoß gegen die Sollvorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG sei rechtlich ohne Bedeutung, ist irrig. Vielmehr ist die Vorschrift dahin zu verstehen, dass die beiden Betriebsratsvorsitzenden in der Regel den verschiedenen Gruppen (Arbeiter und Angestellte) anzugehören haben, die im Betriebsrat vertreten sind. Im vorliegenden Fall gehört jedoch sowohl der Vorsitzende als auch sein Stellvertreter der Arbeitergruppe an, obwohl im Betriebsrat beide Gruppen vertreten sind. Zwar ist der zum stellvertretenden Vorsitzenden des Betriebsrats gewählte Werkmeister R. an sich im Allgemeinen arbeitsrechtlichen Sinne Angestellter. Er gilt jedoch hier als Arbeiter, weil er auf der Arbeiterliste von den Arbeitern im Wege der Gruppenwahl in den Betriebsrat gewählt worden ist. Das ergibt sich aus § 12 Abs. 2 BetrVG, nach dem jede im Betrieb vertretene Gruppe auch Angehörige der anderen Gruppe wählen kann. Das hat dann aber zur Folge, dass die so Gewählten insoweit, d.h. betriebsverfassungsrechtlich, als Angehörige derjenigen Gruppe gelten, die sie gewählt hat (Dietz, BetrVG, 2. Aufl., § 13 Rdn. 15; Fitting-Kraegoloh, BetrVG, 3. Aufl., § 12 Rdn. 16; Galperin, BetrVG, 2. Aufl., § 12 Rdn. 7). Der zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gewählte Werbmeister R. gilt daher betriebsverfassungsrechtlich in jeder Beziehung als Vertreter der Arbeitergruppe, die ihn gewählt hat. Trotz seiner Eigenschaft als Werkmeister ist er in seiner Stellung als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender Vertreter der Arbeitergruppe.

Entgegen der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gehören somit der Vorsitzende und sein Stellvertreter der gleichen, nämlich der Arbeitergruppe an, während die im Betriebsrat vertretene Angestelltengruppe übergangen worden ist. Demgegenüber kann nicht auf die Entscheidung des Senats in BAGE 1, 125 verwiesen werden. Dort ist sowohl die unmittelbare als auch die entsprechende Anwendung des § 12 Abs. 2 BetrVG auf eine Gemeinschaftswahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat deshalb verneint worden, weil § 12 Abs. 2 BetrVG Gruppenwahl voraussetzt, die hier aber gerade stattgefunden hat.

Wie der Senat mehrfach entschieden hat (vgl. hierzu die Beschlüsse des Senats vom 02. November 1955 in AP Nr. 1 zu § 27 BetrVG und vom 07. Dezember 1955 in AP Nr. 2 zu § 27 BetrVG) kann die Wahl des Betriebsratsvorsitzenden oder seines Stellvertreters dann angefochten werden, wenn die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verletzt worden ist, ohne dass die Abweichung von dieser Vorschrift aus objektiven Gründen betrieblich sachlich gerechtfertigt ist. Von diesem Anfechtungsrecht hat die Antragstellerin hinsichtlich der Wahl des stellvertretenden Vorsitzenden Werkmeisters R. form- und fristgerecht Gebrauch gemacht. Die Anfechtung ist auch begründet. Denn nach den eingehenden Feststellungen und überzeugenden Ausführungen des angefochtenen Beschlusses sind für die Wahl eines Gruppenvertreters der Arbeiter zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden in Abweichung von der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG keine objektiven Gründe vorhanden, die die Wahl des R. betrieblich sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen.

Der Antragsgegner vertrat lediglich die Ansicht, der Betriebsrat sei an die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG deshalb nicht gebunden, weil es sich dort lediglich um eine Sollvorschrift handele. Diese Ansicht ist jedoch, wie der Senat eingehend ausgeführt hat (BAG vom 02. November 1955 in AP 1 zu § 27 BetrVG), unrichtig.

Die Ansicht des Senats führt nicht etwa dazu, dass von Seiten der Beteiligten oder durch die Instanzgerichte von Amts wegen nachgeforscht werden müsse, aus welchen Gründen die einzelnen Betriebsratsmitglieder ihre Wahl getroffen haben. Es kommt nicht darauf an, warum die einzelnen Betriebsratsmitglieder entgegen der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gewählt haben. Eine Erforschung, wer wen gewählt hat und welches die Wahlmotive waren, ist unzulässig. Entscheidend ist lediglich, ob das Wahlergebnis selbst durch objektiv betriebliche Gründe tatsächlich gerechtfertigt ist, wenn von der Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abgewichen wurde. Nur dies, nicht die Wahlmotive der einzelnen Betriebsratsmitglieder, haben die Tatsachengerichte von Amts wegen unter Berücksichtigung der Angaben der Beteiligten festzustellen. Diesem Erfordernis genügt der angefochtene Beschluss.

Nach allem ist die Rechtsbeschwerde unbegründet. Die Entscheidung ergeht gemäß § 12 Abs. 4 ArbGG gebühren- und auslagenfrei.