Öffnen der Wahlumschläge und Abgleich der Stimmzettel verstößt gegen Grundsatz der geheimen Wahl

LAG Hessen 9 TaBV 104/11 vom 10. Nov. 2011

Leitsatz

Das systematische Öffnen der Wahlumschläge durch den Wahlvorstand und der Abgleich der Stimmzettel mit den schriftlichen Erklärungen der Briefwähler begründet als eklatanter Verstoß gegen den elementaren Wahlgrundsatz der geheimen Wahl die Nichtigkeit der Wahl, auch wenn der Verstoß keine Auswirkungen auf das Wahlergebnis hatte (str.).

Tenor

Die Beschwerde der Beteiligten zu 2) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Kassel vom 12. Mai 2011 - 3 BV 9/10 – wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung, die am 29. Okt. 2010 bei der Beteiligten zu 1) stattgefunden hat.

Am 29. Okt. 2010 fand die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung im Wahlbetrieb Nord der Beteiligten zu 1) statt. Der Wahlvorstandhatte gemäß § 11 SchwbV-WO die schriftliche Stimmabgabe angeordnet. Nach Beendigung der Wahl erfolgte die öffentliche Stimmauszählung. Neben den drei Wahlvorstandsmitgliedern waren der Betriebsratsvorsitzende sowie der Wahlbewerber A anwesend oderkamen hinzu. Die Mitglieder des Wahlvorstandes nahmen die Auszählung so vor, dass sie zunächst jeweils den Wahlumschlag mit der schriftlichen Erklärung aus dem Freiumschlag entnahmen und die Unterschrift auf der schriftlichen Erklärung prüften. Sodann wurde die Stimmabgabe in die Wählerliste eingetragen. Danach wurden die Wahlumschläge geöffnet, die Stimmzettel entnommen und neben der schriftlichen Erklärung abgelegt und die Stimme ausgezählt. In dieser Weise wurde mit 12 Wahlumschlägen verfahren. Auf Hinweis des Betriebsratsvorsitzenden und des Herrn A wurde diese Vorgehensweisebeendet und in der Folge so verfahren, dass nur noch die nichtgeöffneten Wahlumschläge in die Wahlurne gesteckt wurden, ebenso die ausgezählten Stimmzettel aus den bereits geöffneten Wahlumschlägen. Die Beteiligte zu 2) erhielt 37 Stimmen, der unterlegene Kandidat A vier Stimmen.

Mit ihrem am 10. Nov. 2010 beim Arbeitsgericht Kassel eingegangenen Antrag hat die Beteiligte zu 1) die Wahl für nichtig angesehen, weil der Wahlvorstand den Grundsatz der geheimen Wahleklatant verletzt habe.

Die Beteiligte zu 1) hat beantragt,

die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung der B Wahlbetrieb Nord vom 29. Okt. 2010 für unwirksam zu erklären.

Die Schwerbehindertenvertretung hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Die Schwerbehindertenvertretung hat die Wahl als gültig angesehen. Da die Stimmabgabe beendet gewesen sei, habe eine Missachtung des Wahlgeheimnisses diese nicht mehr beeinflussen können und hätte sich auch nicht auf das Wahlergebnis auswirken können. Selbst wenn 12 Stimmen nicht mitgezählt würden, hätte die Beteiligte zu 2) immer noch einen Vorsprung von 25 zu 4 Stimmen. Keinesfalls sei die Wahl nichtig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Beteiligten, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

Das Arbeitsgericht Kassel hat dem Antrag durch Beschluss vom 12.Mai 2011 - 3 BV 9/10 - stattgegeben. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, die Wahl vom 29. Okt. 2010 sei nichtig. Bei einer demokratischen Wahl könne es nicht hingenommen werden, dass der Wahlvorstand sich die Möglichkeit verschaffe, Einblick in das Wahlverhalten der Wähler zu nehmen. Er habe alles zu unterlassen, was bei den Wählern Anlass zu dem Verdacht geben könne, bei der Wahl sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Das gelte unabhängig davon, ob der Verstoß am Wahlergebnis etwas hätte ändern können. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die arbeitsgerichtlichen Beschlussgründe verwiesen.

Gegen den ihr am 20. Mai 2011 zugestellten Beschluss hat die Schwerbehindertenvertretung am 7. Juni 2011 Beschwerde eingelegt und diese am 24. Juni 2011 begründet.

Die Schwerbehindertenvertretung trägt vor, die Auffassung des Arbeitsgerichts sei völlig unverständlich. Es verkenne, dass ein Wahlberechtigter, bei dessen Stimmabgabe der Grundsatz der geheimen Wahl verletzt worden sei, nicht auch noch wolle, dass seine Stimme nicht zähle. Betrachte man die Fälle, bei denen die Nichtigkeit einer Wahl angenommen worden sei, dann sei der vorliegende Sachverhalt hiervon weit entfernt.

Die Beteiligte zu 2) beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Kassel vom 12. Mai 2011 - 3 BV9/10 - abzuändern und die Anträge der Antragstellerin zurückzuweisen.

Die Beteiligte zu 1) beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Beteiligte zu 1) verteidigt die angefochtene Entscheidung und geht weiterhin von einem eklatanten Verstoß gegen das Wahlgeheimnis aus, der zur Nichtigkeit der Wahl führen müsse.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der Beschwerdeschriftsätze und den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 10. Nov. 2011 verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist statthaft, § 87 Abs. 1 ArbGG, und zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 1, 89 Abs. 1 und 2 ArbGG.

Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Gegenstand des Verfahrens ist nach Antrag und Begründung der Anfechtungsschrift nur die Wahl der Schwerbehindertenvertretung, nicht der Stellvertreter. Es handelt sich hierbei um zwei voneinander unabhängige Wahlen, die getrennt angefochten werden können (BAG Beschluss vom 29. Juli 2009 – 7 ABR 91/07 –Juris). Der Antrag der Beteiligten zu 1) ist unbegründet, weil die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung vom 29. Okt. 2010 im Wahlbetrieb B Nord nichtig ist. Dies hat das Arbeitsgerichtzutreffend erkannt. Die Wahl einer Arbeitnehmervertretung ist nichtig bei groben und offensichtlichen Verstößen gegen wesentliche Grundsätze des gesetzlichen Wahlrechts. Wegen der schwerwiegenden Folgen einer von Anfang an unwirksamen Wahl kann deren jederzeit feststellbare Nichtigkeit nur bei besonders krassen Wahlverstößen angenommen werden (BAG Beschluss vom 19. November 2003 - 7 ABR25/03 - EzA § 19 BetrVG 2001 Nr. 1; Hess. LAG Beschluss vom 12.Okt. 2006 - 9 TaBV 57/05 - n.v.). Voraussetzung dafür ist, dass der Mangel offenkundig ist und deshalb ein Vertrauensschutz in die Gültigkeit der Wahl zu versagen ist. Die Betriebsratswahl muss "den Stempel der Nichtigkeit auf der Stirn tragen" (BAG a.a.O.). Die Nichtigkeit kann nicht aus einer Gesamtwürdigung einzelner für sich nicht ausreichender Gründe erfolgen (BAG a.a.O.).

Der Wahlvorstand hat nach § 11 Abs. 2 Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen die schriftliche Stimmabgabebeschlossen, d.h. den Wahlberechtigten werden die Unterlagen für die schriftliche Stimmabgabe unaufgefordert übersandt. Die Stimmabgabe erfolgt in der Weise, dass der Wähler oder die Wählerin den Stimmzettel unbeobachtet persönlich kennzeichnet und in den Wahlumschlag einlegt, die vorgedruckte Erklärung unter Angabe des Ortes und des Datums unterschreibt und den Wahlumschlag und die unterschriebene, vorgedruckte Erklärung in dem Freiumschlagverschließt und an den Wahlvorstand absendet oder übergibt. Nach §12 Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen öffnet der Wahlvorstand unmittelbar vor Abschluss der Wahl in öffentlicher Sitzung die bis zu diesem Zeitpunkt eingegangenen Freiumschläge und entnimmt ihnen die Wahlumschläge sowie die vorgedruckten Erklärungen. Ist die schriftliche Stimmabgabe ordnungsgemäß erfolgt(§ 11), legt der Wahlvorstand die Wahlumschläge nach Vermerk der Stimmabgabe in der Liste der Wahlberechtigten ungeöffnet in die Wahlurne.

Die in § 11 der Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen zwingend vorgesehene Stimmabgabe durch die Abgabe von Stimmzetteln in den hierfür bestimmten Umschlägen (Wahlumschlägen) dient de Wahrung des elementaren Grundsatzes, dass Wahlen geheimdurchzuführen sind. Dieser Grundsatz ist allen demokratischen Wahlen, zu denen auch Betriebsratswahlen gehören, immanent und wird in § 94 Abs. 1 Abs. 6 Satz 1 SGB IX bestätigt. Bei einer Sicherung des Wahlgeheimnisses durch Verwendung der in der Wahlordnung obligatorisch vorgeschriebenen Wahlumschläge kann jeder Arbeitnehmer mit der Aushändigung der Stimmzettel nebst Wahlumschlag sicher sein, dass sein Abstimmungsverhalten geheimbleiben wird. Die Regelungen über die schriftliche Stimmabgabedienen der Gewährleistung der Grundsätze der geheimen Wahl (vgl. LAG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25. Aug. 2011 - 25 TaBV 529/11– Juris; LAG Hamm Beschluss vom 9. März 2007 – 10 TaBV 105/06 – AiB 2009, 588 = Juris; LAG Niedersachsen Beschluss vom 1. März 2004 – 16 TaBV 60/03 – AiB 2009, 723 =Juris). Das Wahlgeheimnis ist auch nach Abschluss der Stimmabgabegeschützt (BAG Beschluss vom 27. Juli 2005 - 7 ABR 54/04 - EzA § 19BetrVG 2001 Nr. 5 = Juris).

Es handelt sich in den genannten Entscheidungen zwar um Fälle der Anfechtung. Fälle der Anfechtbarkeit sind etwa diejenigen, in den kein Wahlumschlag benutzt wurde oder keine Urne und in denen die Gefahr einer Manipulation oder Wahlfälschung bestand, die aber im jeweiligen Einzelfall noch nicht festgestellt werden konnten.

Anders als in diesen Fällen hat der Wahlvorstand vorliegend den elementaren Wahlgrundsatz der geheimen Wahl jedoch in besonders eklatanter und krasser Weise verletzt. Er hat nachhaltig und systematisch dagegen verstoßen, in dem er bei zwölf Wählern die Wahlumschläge öffnete und die Stimmzettel entnahm und die Stimmabgabe auswertete. Dies geschah nicht etwa bezüglicher anonymer Stimmzettel, sondern die persönlichen Erklärungen der Wahlberechtigten lagen neben den Stimmzetteln. Die Mitglieder des Wahlvorstandes, dessen Vorsitzender der Beteiligte zu 2) war und der schließlich auch gewählt wurde, überprüften und registrierten damit, welcher Wahlberechtigte wen gewählt hat. Sie hätten dies bei allen abgegebenen Stimmen so gemacht, wenn ihnen der Betriebsratsvorsitzende und Herr A nicht Einhalt geboten hätten. Das systematische Ausspähen der Stimmabgabe geht weit über bloße Verfahrensfehler hinaus, die lediglich die Gefahr der Verletzung des Wahlgeheimnisses begründen.

Im Falle der Wahlnichtigkeit kommt es jedenfalls in Fällen der Verletzung elementarer Wahlgrundsätze nicht darauf an, ob ohne den die Nichtigkeit begründenden Mangel das Wahlergebnis ein anderes gewesen wäre (BAG Beschluss vom 24 Jan. 1964 – 1 ABR 14/63– AP Nr. 6 zu § 3 BetrVG; Richardi-Thüsing BetrVG § 19 Rz.76). Eine Kausalität zwischen Verfahrensverstoß und Wahlergebnis ist in diesen Fällen nicht erforderlich. Ein Teil der Literaturvertritt zwar (GK-BetrVG/Kreutz, § 19 Rz. 136), es könne auch bei schwerwiegenden und offensichtlichen Wahlfehlern nicht darum gehen, Wahlrechtsverstöße per se zu ahnden. Maßstab der Nichtigkeitsfolge sei allein, dass dem Wahlakt die Legitimationsgrundlage für die Amtsausübung des Betriebsrats fehle. § 19 Abs. 1 letzter Halbsatz BetrVG regelt jedoch nur die Anfechtung einer Betriebsratswahl, nicht die Nichtigkeit der Wahl. Die gesetzliche Regelung geht davon aus, dass Verfahrensverstöße, die sich nicht auf das Wahlergebnisauswirken konnten, eine Anfechtung nicht begründen können. Diese Verfahrensverstöße sind dann hinzunehmen, denn es geht bei der Wahlanfechtung in der Tat nicht um die Ahndung einfacher Verfahrensverstöße, die sich nicht einmal auf das Wahlergebnisauswirken konnten. Dagegen müssen krasse und eklatante Verletzungen von elementaren Wahlgrundsätzen wie der der geheimen Wahl zur Nichtigkeit der Wahl führen, auch wenn sie sich nicht auf das Wahlergebnis ausgewirkt haben. Das Vertrauen der wahlberechtigten Arbeitnehmer in ihr Wahlgeheimnis ist durch das Verhalten des Wahlvorstandes nachhaltig gestört. Die systematische Offenlegung des Stimmverhaltens der wahlberechtigten Arbeitnehmer schürt ein Misstrauen, dass sie auch davon abhalten kann, überhaupt noch zu wählen. Eine solche Wahl ist derart belastet, dass sie keine demokratische Grundlage für die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung sein kann.

Eine Kostenentscheidung ergeht nach § 2 Abs. GKG nicht.

Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde besteht keine gesetzlich begründete Veranlassung, §§ 92 Abs. 1, 72 ArbGG. Die entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind höchstrichterlich entschieden. Die offen gelassene Fragestellung am Ende des Beschlusses vom 15. Nov. 2000 – 7 ABR 23/99 – Juris)mit einem Literaturverweis ist kein Grund für die Zulassung der Rechtsbeschwerde.