BAG 2 AZR 299/11 vom 19. Apr. 2012
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 25. Februar 2011 - 13 Sa 1566/10 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Zusammenhang mit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung über das Bestehen von Sonderkündigungsschutz für Wahlbewerber.
Der Kläger ist seit dem 1. September 2002 als gewerblicher Mitarbeiter bei der Beklagten beschäftigt. In deren Betrieb sind etwa 140 Arbeitnehmer tätig.
Der im Betrieb bestehende Betriebsrat bestellte am 7. Januar 2010 für die turnusmäßig anstehenden Betriebsratswahlen einen Wahlvorstand. Dies wurde am 8. Januar 2010 per Aushang im Betrieb bekannt gemacht. Am 18. Februar 2010 erstellte eine Gruppe von Arbeitnehmern eine Wahlvorschlagsliste, auf deren Blatt 1 der Kläger als einer von insgesamt 18 Bewerbern aufgeführt war. Die Liste war mit einem zweiten Blatt, auf dem sich elf Stützunterschriften befanden, fest verbunden. Der Wahlvorschlag ging am 18. Februar 2010 beim Wahlvorstand ein. Das Wahlausschreiben für die Betriebsratswahl am 18. Mai 2010 war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlassen.
Am 12. Februar 2010 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat widersprach. Mit Schreiben vom 22. Februar 2010 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien aus betriebsbedingten Gründen zum 31. März 2010.
Mit seiner rechtzeitig erhobenen Klage hat der Kläger ua. geltend gemacht, die Kündigung sei schon wegen seines besonderen Kündigungsschutzes als Wahlbewerber unwirksam.
Der Kläger hat beantragt
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 22. Februar 2010 nicht aufgelöst worden ist;
2. im Falle seines Obsiegens mit dem Antrag zu 1., die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als gewerblichen Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger genieße keinen Sonderkündigungsschutz als Wahlbewerber. Die Wahl sei zum Kündigungszeitpunkt noch nicht eingeleitet gewesen. Der besondere Kündigungsschutz beginne frühestens mit dem Erlass des Wahlausschreibens. Im Übrigen bestehe aufgrund der rückläufigen Produktion ein dringendes betriebliches Erfordernis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Kündigungsschutzklage.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Kündigung nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG iVm. § 134 BGB nichtig ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hat. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 22. Februar 2010 stand dem Kläger der besondere Kündigungsschutz als Wahlbewerber zu. Er konnte deshalb nur außerordentlich aus wichtigem Grund (§ 626 BGB) und mit Zustimmung des Betriebsrats (§ 103 BetrVG) gekündigt werden.
I.
Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist die ordentliche Kündigung eines Wahlbewerbers vom Zeitpunkt der Aufstellung des Wahlvorschlags an bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses unzulässig.
II.
Ein Wahlvorschlag ist im Sinne dieser Norm „aufgestellt“, sobald er die erforderlichen Stützunterschriften aufweist und ein Wahlvorstand existiert.
1. In seiner Entscheidung vom 7. Juli 2011 (- 2 AZR 377/10 - Rn. 13 ff., AP KSchG 1969 § 15 Nr. 69 = EzA KSchG § 15 nF Nr. 68) hat der Senat an der Auffassung festgehalten, dass der Sonderkündigungsschutz für Wahlbewerber beginnt, sobald ein Wahlvorstand für die Wahl bestellt ist und ein Wahlvorschlag für den Kandidaten vorliegt, der die nach dem Betriebsverfassungsgesetz erforderliche Mindestzahl von Stützunterschriften aufweist (vgl. BAG 5. Dezember 1980 - 7 AZR 781/78 - BAGE 34, 291; 4. März 1976 - 2 AZR 620/74 - BAGE 28, 30). Der Wahlvorschlag ist dann im Sinne des Gesetzes „aufgestellt“. Auf seine Einreichung beim Wahlvorstand oder auf den Erlass des Wahlausschreibens kommt es nicht an (BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 14 mwN, aaO).
2. Dieses Ergebnis entspricht dem Wortlaut und dem Regelungszweck des § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG sowie den Regelungen der Wahlordnung. Der besondere Kündigungsschutz soll die Durchführung der Betriebsratswahlen sichern und gewährleisten, dass Arbeitnehmer zur Kandidatur zum Betriebsrat bereit sind und nicht durch Kündigung des Arbeitgebers daran gehindert werden, an der Wahl teilzunehmen. Um dieses Ziel effektiv zu gewährleisten, muss der Kündigungsschutz zu dem Zeitpunkt einsetzen, zu welchem die aus der Kandidatur erwachsene Gefährdung des Arbeitsverhältnisses eines Wahlbewerbers entsteht. Das ist der Fall, wenn für den Arbeitgeber erkennbar wird, dass der Arbeitnehmer für das Amt in Aussicht genommen ist. Davon ist regelmäßig auszugehen, sobald ein formwirksamer Wahlvorschlag vorliegt, der den Arbeitnehmer als Kandidaten ausweist. Von diesem Zeitpunkt an muss der Arbeitgeber ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, ein ihm möglicherweise nicht genehmer Bewerber werde in ein betriebsverfassungsrechtliches Amt gewählt. Damit vergrößert sich für den Bewerber die Kündigungsgefahr und aktiviert sich das Bedürfnis nach einem Schutz der Betriebsratswahl (BAG 4. März 1976 - 2 AZR 620/74 - zu I 4 c aa der Gründe, BAGE 28, 30). Dies gilt unabhängig davon, ob das Wahlausschreiben gemäß § 3 WO schon erlassen ist. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der besondere Kündigungsschutz eng mit dem Wahlverfahren verknüpft und durch dieses zeitlich und funktional begrenzt ist. Die „Aufstellung“ des Wahlvorschlags verlangt nach der Einhaltung einer bestimmten Form. Schon der Wortlaut des § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG verweist deshalb für den Beginn des Schutzes auf einen Abschnitt im Wahlverfahren, der zeitlich nach der bloßen Verlautbarung einer möglichen Kandidatur oder eines Interesses an der Bewerbung liegt. Er verbietet es, auf einen Zeitpunkt abzustellen, zu dem das Wahlverfahren noch nicht einmal in Gang gesetzt worden ist. Erforderlich ist die Existenz eines Wahlvorschlags, auf dessen Grundlage immerhin die greifbare Möglichkeit einer Wahl zum Betriebsrat besteht (BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 24, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 69 = EzA KSchG § 15 nF Nr. 68). Diesen Anforderungen wird ein Wahlvorschlag am ehesten gerecht, der die nach § 14 Abs. 4 BetrVG erforderliche Mindestzahl von Stützunterschriften von Arbeitnehmern trägt. Hat sich eine Kandidatur auf diese Weise verfestigt, muss der Arbeitgeber ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, dass ein Kandidat in den Betriebsrat gewählt wird. Die damit verbundene „Vorwirkung“ des potentiellen Betriebsratsamts bewirkt eine erhöhte Kündigungsgefahr, die ein entsprechendes Schutzbedürfnis auf Seiten des Arbeitnehmers auslöst (BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 25, aaO).
3. Für den Beginn des Sonderkündigungsschutzes nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG kommt es nicht darauf an, ob bei der Anbringung der letzten erforderlichen Stützunterschrift die Frist zur Einreichung von Wahlvorschlägen, die regelmäßig am Tag nach Aushang des Wahlausschreibens beginnt (§ 6 Abs. 1 WO), schon angelaufen war (BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 28, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 69 = EzA KSchG § 15 nF Nr. 68). Ein Wahlvorschlag, der vor Beginn der für die Einreichung maßgebenden Fristen beim Wahlvorstand eingeht, ist nicht etwa ein von vornherein ungültiger Vorschlag. Die „greifbare Möglichkeit“ einer Wahl besteht deshalb auch dann, wenn der Wahlvorschlag „vorfristig“ aufgestellt worden ist. Das Wahlausschreiben muss - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht deshalb schon erlassen sein, weil erst von diesem Zeitpunkt an feststünde, wieviel Stützunterschriften wirklich benötigt werden. Zum einen reicht gemäß § 14 Abs. 4 Satz 2 BetrVG unabhängig von der genauen Anzahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer das Vorliegen von 50 Stützunterschriften in jedem Fall aus. Zum anderen ist es das Risiko des Arbeitnehmers und Wahlbewerbers, dass der Wahlvorschlag die erforderliche Anzahl von Stützunterschriften nicht aufweist und deshalb (noch) nicht iSv. § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG „aufgestellt“ ist.
4. Ein bereits vollzogener Erlass des Wahlausschreibens ist auch nicht zur Vermeidung von Rechtsmissbrauch erforderlich (BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 29 f., AP KSchG 1969 § 15 Nr. 69 = EzA KSchG § 15 nF Nr. 68). Dem wird hinreichend dadurch vorgebeugt, dass der Sonderkündigungsschutz nach § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG die Existenz eines Wahlvorstands voraussetzt. Da § 16 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nur regelt, bis wann spätestens ein Wahlvorstand zu bestellen ist, nicht aber festlegt, ab wann frühestens er bestellt werden kann, liegt nicht allein in einer „unnötig“ frühen Bestellung schon ein Rechtsmissbrauch, solange nicht der Zeitpunkt der Bestellung sachlich gänzlich unangemessen ist.
III.
Im Streitfall besaß der Kläger im Kündigungszeitpunkt am 22. Februar 2010 den besonderen Kündigungsschutz als Wahlbewerber.
1. Bei Zugang der Kündigung war der Wahlvorstand - seit dem 7. Januar 2010 - bereits bestellt. Diesem war der Wahlvorschlag, auf dem der Kläger aufgeführt war, mit elf, dh. mit mehr als der erforderlichen Anzahl von sieben oder acht Stützunterschriften sogar schon zugegangen.
2. Sonstige Umstände, die von vornherein der greifbaren Möglichkeit einer Wahl des Klägers entgegengestanden hätten und deshalb den Eintritt des Sonderkündigungsschutzes hätten hindern können (vgl. BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 36, AP KSchG 1969 § 15 Nr. 69 = EzA KSchG § 15 nF Nr. 68), liegen nicht vor. Insbesondere steht einer Anwendbarkeit von § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht der Umstand entgegen, dass die Kandidatur des Klägers zeitlich eng mit dem Kündigungsentschluss der Beklagten und der Anhörung des Betriebsrats zur beabsichtigten Kündigung zusammenfiel. Das macht für sich genommen die Berufung auf den besonderen Kündigungsschutz nicht rechtsmissbräuchlich (vgl. BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 377/10 - Rn. 42, aaO).
IV.
Über den Antrag auf Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Feststellungsbegehren war nicht mehr zu befinden.
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.