Anfechtbarkeit einer Betriebsratswahl - generelle Anordnung einer Briefwahl

LAG Niedersachsen 17 TaBV 41/10 vom 9. März 2011

Leitsatz

Es liegt ein Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren vor, § 19 Abs. 1 BetrVG, wenn der Wahlvorstand unter Missachtung der Vorgaben des § 24 WO 2001 generell für alle Wahlberechtigten die schriftliche Stimmabgabe anordnet und unterschiedslos auch Betriebsteile, die im Stadtgebiet nur wenige km vom Hauptbetrieb entfernt liegen, als räumlich weit entfernt i. S. d. § 24 Abs. 3 WO 2001 behandelt und außerdem Schichtdienstleistende und Arbeitnehmer, die ihre Arbeit am Hauptbetrieb aufnehmen und beenden unterschiedslos als solche behandelt, die nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses im Zeitpunkt der Wahl voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden, § 24 Abs. 2 WO 2001.

Tenor

Die Beschwerde des Beteiligten zu 6) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 04.05.2010 (1 BV 6/10) wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten zweitinstanzlich über die Frage der Anfechtbarkeit der Betriebsratswahl.

Die Antragsteller zu 1. bis 3. sind Arbeitnehmer der Beteiligten zu 7., die weiteren Antragsteller zu 4. und 5. sind Arbeitnehmer der Beteiligten zu 9. Die Beteiligte zu 7. ist ein regionaler Versorger. Der Beteiligte zu 6. ist der am 15.03.2010 gewählte Betriebsrat der Beteiligten zu 7. bis 10. Ausweislich des Wahlausschreibens vom 18.01.2010 wurde in Teilbetriebsversammlungen der Tochtergesellschaften die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 a in Verbindung mit Abs. 3 BetrVG für die Beteiligten zu 7. bis 10. beschlossen. Bereits in seiner konstituierenden Sitzung am 17.12.2009 fasste der von dem vormaligen Betriebsrat bestellte (siehe Anlage zum Schriftsatz der Antragsteller vom 07.03.2011, Bl. 331 d. A.) Wahlvorstand den Beschluss, dass ausschließlich Briefwahl durchgeführt werden sollte. Demgemäß war in dem veröffentlichten Wahlausschreiben vom 18.01.2010 festgehalten, dass ausschließlich Briefwahl stattfindet. Gemeinsam mit dem Wahlausschreiben vom 18.01.2010 wurde die Wählerliste ausgelegt, in der neben den insgesamt 421 Wahlberechtigten der Beteiligten zu 7. bis 10. 84 Mitarbeiter der Beteiligten zu 11. als wahlberechtigte Arbeitnehmer aufgeführt waren. Bei der Beteiligten zu 11., die insgesamt ca. 600 Arbeitnehmer beschäftigt, handelt es sich um eine Kooperation der Beteiligten zu 7. und der Land E F. GmbH mit Wirkung ab 01.10.2005.

Die Beteiligte zu 7. beschäftigt insgesamt 39 wahlberechtigte Arbeitnehmer, davon 20 sog. Geodienstmitarbeiter, die ihren Dienst am Hauptsitz der Beteiligten zu 7., A-Straße beginnen und ihn dort ca. gegen 15.00 bis 15.30 Uhr beenden. Die von diesen Mitarbeitern benutzten Fahrzeuge stehen auf dem Hof des Hauptsitzes. Außerdem ziehen sich die Mitarbeiter, die Arbeitskleidung tragen, dort um und essen zum Teil auch mittags in der im Hauptsitz befindlichen Kantine, in der die Beschäftigten aller vier Unternehmen ihr Mittagessen und Frühstück einnehmen können. Weitere sechs mit der Wartung der Straßenbeleuchtung beschäftigte Arbeitnehmer beginnen und beenden ihre Arbeit ebenfalls auf dem Hauptgelände in der Arbeitszeit von ca. 7.00 bis 15.00 Uhr. Teilweise arbeiten diese Mitarbeiter (Rufbereitschaft) auch abends.

Die Beteiligte zu 8. beschäftigt 36 Wahlberechtigte, davon zwölf Techniker im Außendienst. Diese nehmen - sofern sie nicht ihre Fahrzeuge mit nach Hause nehmen und auch kein Material im am Hauptsitz der Beteiligten zu 7. befindlichen Lager aufnehmen müssen - regelmäßig ihre Tätigkeit vom Hauptsitz der Beteiligten zu 7. aus auf, weil die Fahrzeuge dort auf dem Gelände parken. Von den 14 Kundenberatern der Beteiligten zu 8. befindet sich in der Regel einer in der Außenstelle in G., der allerdings auch einen Arbeitsplatz in der Zentrale der Beteiligten zu 7. hat. Die anderen 13 arbeiten im Hauptgebäude in der A-Straße in A-Stadt. Erst nach der streitbefangenen Betriebsratswahl wurde ein Verkaufsladen, der ca. 500 m entfernt in der Fußgängerzone liegt, eingerichtet.

Die Beteiligte zu 9., mit 196 Mitarbeitern, unterhielt im Zeitpunkt der Betriebsratswahl eine Leitstelle im Hauptgebäude der Beteiligten zu 7. in der A-Straße, A-Stadt. In dieser waren neun Verkehrsmeister beschäftigt. Die 135 Busfahrer der Beteiligten zu 9. nehmen ihre Arbeit am Betriebshof der Beteiligten zu 9., der ca. 2,5 bis 3,1 km vom Hauptsitz der Beteiligten zu 7. entfernt ist, auf und beenden sie auch dort. Für sie gibt es einen Aufenthaltsraum im Hauptgebäude der Beteiligten zu 7. unmittelbar neben der Kantine. Auf dem Betriebshof der Beteiligten zu 9. befindet sich außerdem eine Werkstatt, in der 20 Kfz-Mechaniker im Schichtdienst arbeiten. Weiter werden auf dem Betriebshof die Busse von acht - in der Regel vollzeitbeschäftigten - Reinigungskräften, die zu normalen Arbeitszeiten beginnen, bis abends 23.00 Uhr gereinigt. Bei der Beteiligten zu 9. sind außerdem sechs Kundenberater/Ticketverkäufer in einem Infoshop, der sich ca. 150 m vom Hauptgebäude der Beteiligten zu 7. entfernt befindet, tätig. Die über den Tag eingenommenen Gelder werden im Hauptgebäude eingezahlt.

Die Beteiligte zu 10. beschäftigt insgesamt 150 Arbeitnehmer, davon 60 Sicherheitskräfte - überwiegend geringfügig Beschäftigte - auf Abruf, die in der Eisarena, die ca. 3,5 bis 4 km vom Hauptsitz entfernt ist, freitags und an Wochenenden bei Spielen des Eishockeyvereins EHC A-Stadt zur Bewachung eingesetzt werden. Bei in der Regel zwei Spielen pro Wochenende sind regelmäßig 40 bis 50 dieser Kräfte anwesend. Sie beginnen ihren Dienst vor den Spielen, die entweder abends oder am Sonntag auch nachmittags sind, und übernehmen ihre Ausrüstung. Weiter beschäftigt die Beteiligte zu 10. sieben fest abgestellte Alarmfahrer im Schichtdienst, die ihren Sitz am Leitstand im Hauptgebäude der Beteiligten zu 7. aufnehmen und ihn auch dort beenden. Außerdem beschäftigt die Beteiligte zu 10. 16 Reinigungskräfte zum Teil an unterschiedlichen Orten (Eisarena, Wasserwerke, Endhaltestellen), die ihren Dienst ca. um 15.00 Uhr beginnen und sich den Schlüssel in der Zentrale der Beteiligten zu 7. abholen müssen.

Nach Auszählung der Stimmen am 15.03.2010 wurde das Wahlergebnis der Betriebsratswahl vom Wahlvorstand am 16.03.2010 durch Aushang bekannt gemacht. Danach entfielen für die in Listenwahl durchgeführte Betriebsratswahl 178 Stimmen auf die Liste 1 "Belegschaftsliste ver.di" und 216 Stimmen auf die Liste 2 "Team Zukunft". Die Antragsteller zu 1. und 2. wurden auf der Minderheitenliste in den Betriebsrat gewählt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Bekanntmachung vom 16.03.2010 (Anlage 1 zur Antragsschrift, Bl. 13 f. d. A.) verwiesen.

Mit dem am 29.03.2010 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen Antrag haben die Antragsteller zu 1. bis 5. die Betriebsratswahl angefochten und geltend gemacht, dass bei der Durchführung der Betriebsratswahl gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht und das Wahlverfahren verstoßen worden sei. So seien die 84 Arbeitnehmer der Beteiligten zu 11. keine Arbeitnehmer im Sinne von § 7 Abs. 2 BetrVG und mithin fälschlicherweise in das Wählerverzeichnis aufgenommen worden. Darüber hinaus liege aufgrund der Durchführung der Betriebsratswahl nur in Form der Briefwahl ein schwerer Verstoß gegen die Wahlvorschriften vor.

Die Antragsteller zu 1. bis 5. haben beantragt,

festzustellen, dass die Wahl zum Betriebsrat im Betrieb der Beteiligten zu 7. nichtig ist,

hilfsweise,

die Wahl des Betriebsrats im Betrieb der Beteiligten zu 7. am 15.03.2010 für ungültig zu erklären.

Die Beteiligte zu 7. hat sich den Vortrag der Antragsteller und Beteiligten zu 1. bis 5. zu eigen gemacht und sich den Anträgen der Antragsteller angeschlossen.

Der Beteiligte zu 6. hat beantragt,

die Anträge zurückzuweisen.

Er hat darauf verwiesen, dass bereits bei der Betriebsratswahl 2006 ausschließlich in Form der Briefwahl gewählt wurde und auch seinerzeit Arbeitnehmer der Beteiligten zu 11. im Wählerverzeichnis als wahlberechtigte Personen verzeichnet waren. In Vorbereitung der hier streitbefangenen Betriebsratswahl habe der Wahlvorstand auf die Wählerliste der vorangegangenen Wahl zurückgegriffen und sei mit Hilfe des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden und hiesigen Antragstellers zu 1. und seiner Stellvertreterin, der Antragstellerin zu 2., abgestimmt und aktualisiert worden. Während des gesamten Verlaufs des Betriebsratswahlverfahrens seien von den Antragstellern keine Einwände erhoben worden, weder wegen der Aufnahme der Arbeitnehmer der Beteiligten zu 11. in das Wählerverzeichnis noch wegen der schriftlichen Stimmabgabe. Im Gegenteil hätten die Antragsteller zu 1. und 2. noch mit einem an den Wahlvorstand gerichteten Schreiben vom 19.03.2010 (Anlage 3 zum Schriftsatz des Beteiligten zu 6. vom 27.04.2010, Bl. 65 d. A.) den reibungslosen Ablauf der Wahl gelobt. Nach alledem sei das Verhalten der Antragsteller zu 1. bis 5. widersprüchlich, und es liege eine unzulässige Rechtsausübung vor. Der Beteiligte zu 6. hat weiter vorgetragen, der Wahlvorstand habe sich für die ausschließliche Briefwahl entschieden, weil es für 85 % der Mitarbeiter u. a. wegen Schichtdienst und Dienst an anderen Standorten unzumutbar gewesen sei, das Wahllokal aufsuchen zu müssen. Der Wahlvorstand habe bei seiner Entscheidung auch die Kostenminimierung berücksichtigt, da es ihm unverhältnismäßig erschienen sei, für nur 15 % der Belegschaft ein Wahllokal mit drei Mitarbeitern für acht Stunden zu besetzen.

Das Arbeitsgericht Braunschweig hat mit Beschluss vom 04.05.2010 die Wahl des Betriebsrats im Betrieb der Beteiligten zu 7. am 15.03.2010 für ungültig erklärt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die Betriebsratswahl sei nicht nichtig, jedoch sei die Anfechtbarkeit der Betriebsratswahl begründet, weil diese ausschließlich in Briefwahl durchgeführt worden sei. Wegen der Einzelheiten, die das Arbeitsgericht zu seiner Entscheidung haben gelangen lassen, wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.

Gegen diesen ihm am 17.05.2010 zugestellten Beschluss hat der Beteiligte zu 6. mit einem am 14.06.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt und diese mit einem am 17.08.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem die Beschwerdebegründungsfrist bis dahin verlängert worden war. Die Kammer nimmt auf den Inhalt des Beschwerdebegründungsschriftsatzes des Beteiligten zu 6. vom 17.08. 2010 (Bl. 141 ff. d. A.) sowie auf seine weiteren Schriftsätze vom 20.01.2011 (Bl. 215 bis 225 d. A.), vom 25.02.2011 (Bl. 230 bis 273 d. A.) sowie vom 07.03.2011 (Bl. 284 d. A.) Bezug.

Der Beteiligte zu 6. beantragt,

unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 04.05. 2010 die Anträge zurückzuweisen.

Die antragstellenden Arbeitnehmer zu 1. bis 5. beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigen den erstinstanzlichen Beschluss nach Maßgabe ihrer Beschwerdeerwiderungsschrift vom 20.09.2010 (Bl. 156 bis 159 d. A.) sowie ihres weiteren Schriftsatzes vom 07.03.2011 (Bl. 329 bis 371 d. A.), auf die Bezug genommen wird.

II.

1. Die nach § 87 Abs. 1 ArbGG statthafte Beschwerde ist gemäß §§ 89 Abs. 1 und 2, 87 Abs. 2, 66 Abs. 1 ArbGG form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

2. Sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg, weil das Arbeitsgericht dem Anfechtungsantrag zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die die Kammer Bezug nimmt, stattgegeben hat.

2.1 Die formellen Voraussetzungen für die Anfechtung der Betriebsratswahl gemäß § 19 Abs. 2 BetrVG sind gewahrt.

2.1.1 Die Antragsteller sind anfechtungsberechtigt. Dabei ist unerheblich, dass zwei der Antragsteller zu Mitgliedern des Betriebsrats gewählt sind, dessen Wahl sie anfechten (vgl. Fitting, BetrVG, 25. Auflage, § 19 Rn. 29). Nur der Betriebsrat oder Wahlvorstand als solcher ist nicht anfechtungsberechtigt. Bei dessen Mitgliedern ist nur ihre Arbeitnehmerstellung und Wahlberechtigung Voraussetzung für die Anfechtungsbefugnis (LAG Brandenburg vom 27.11.1998 - 5 TaBV 18/98 - NZA-RR 1999, 418 ff.). Diese ist vorliegend zwischen den Beteiligten nicht streitig. Da die gesetzliche Mindestzahl von drei Arbeitnehmern gemäß § 19 Abs. 2 BetrVG auch dann erreicht ist, wenn die Kammer zugunsten des Beteiligten zu 6. die Anfechtung durch die Antragsteller zu 1. und 2. als unzulässige Rechtsausübung werten würde, konnte die Frage des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens dieser Antragsteller dahinstehen.

2.1.2 Die Anfechtung ist auch innerhalb der 2-Wochen-Frist erfolgt. Das Wahlergebnis wurde am 16.03.2010 im Betrieb ausgehängt. Der Wahlanfechtungsantrag ging am 29.03.2010 und damit weniger als zwei Wochen nach dem frühestmöglichen Zeitpunkt der Bekanntgabe des Wahlergebnisses beim Arbeitsgericht Braunschweig ein.

2.2 Es liegt auch ein Anfechtungsgrund gemäß § 19 Abs. 1 BetrVG vor.

Bei der Wahl wurde gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren verstoßen, wodurch das Wahlergebnis beeinflusst werden konnte.

2.2.1 Nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann die Betriebsratswahl angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte.

2.2.2 Die Betriebsratswahl vom 15.03.2010 bei den Beteiligten zu 7. bis 10. verstieß gegen wesentliche Grundsätze des Wahlverfahrens und war daher unwirksam.

In der Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe für alle Arbeitnehmer der Beteiligten zu 7. bis 10. liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der persönlichen Stimmabgabe. Die Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe ist nur in den in § 24 WO genannten Fällen zulässig. Ist der Arbeitnehmer wegen Abwesenheit vom Betrieb verhindert, seine Stimme persönlich abzugeben, kann er auf sein Verlangen hin schriftlich wählen (§ 24 Abs. 1 WO 2001). Von Amts wegen erhalten solche Arbeitnehmer Briefwahlunterlagen, von denen der Wahlvorstand weiß, dass sie aufgrund der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses im Zeitpunkt der Wahl voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden (insbesondere im Außendienst oder mit Telearbeit Beschäftigte und in Heimarbeit Beschäftigte), § 24 Abs. 2 WO 2001. Für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, kann der Wahlvorstand die schriftliche Stimmabgabe gemäß § 24 Abs. 3 WO 2001 beschließen. Damit sind die Fälle, in denen Briefwahl zulässig ist, abschließend aufgezählt. Die Briefwahl steht mithin nicht im Belieben des Wahlvorstands, sondern ist an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 24 WO 2001, bei dem es sich um eine wesentliche Wahlvorschrift handelt, gebunden. Eine generelle Briefwahl ist unzulässig (BAG vom 27.01.1993 - 7 ABR 37/92 - AP Nr. 29 zu § 76 BetrVG 1952). Die Aufforderung zur Briefwahl, ohne dass die Voraussetzungen des § 24 WO vorliegen, stellt daher eine Verletzung der wesentlichen Vorschriften über das Wahlverfahren dar (siehe auch LAG Schleswig-Holstein vom 18.03.1999 - 4 TaBV 51/98 - NZA-RR 1999, 523 ff., Rn. 24).

2.2.2.1 Nach dem Vortrag der Beteiligten und aufgrund der Erörterungen in der mündlichen Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht am 09.03.2011 musste die Kammer davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der Wahlberechtigten zur Wahl im Betrieb anwesend war und keine schriftliche Stimmabgabe beantragt hatte. Gemessen am Maßstab des § 24 Abs. 2 und 3 WO hätte zumindest für einen Großteil der Arbeitnehmer die schriftliche Stimmabgabe nicht angeordnet werden dürfen.

Schon nach dem schriftsätzlichen Vorbringen des Beteiligten zu 6. lagen für 73 Arbeitnehmer der Beteiligten zu 7. bis 10. sowie für 57 Arbeitnehmer der Beteiligten zu 11. die Voraussetzungen für eine Briefwahl nach § 24 WO nicht vor. Soweit die Parteien hinsichtlich der Voraussetzungen für eine schriftliche Stimmabgabe bei weiteren 348 der insgesamt 421 Wahlberechtigten der Beteiligten zu 7. bis 10. unterschiedliche Auffassungen vertraten, ist aufgrund der in der mündlichen Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht am 09.03.2011 von dem Beteiligten zu 6. nicht bestrittenen, protokollierten Angaben (§ 138 Abs. 3 ZPO) davon auszugehen, dass jedenfalls für weitere 238 Mitarbeiter die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 und/oder 3 WO nicht vorlagen.

Dies betrifft zunächst die neun Verkehrsmeister der Beteiligten zu 9., die zum Zeitpunkt der Wahl noch in der Leitstelle des Hauptgebäudes arbeiteten, sowie mindestens fünf im Leitstand/Notrufzentrale beschäftigte Arbeitnehmer der Beteiligten zu 10. Für diese Arbeitnehmer lagen weder die Voraussetzungen aus § 24 Abs. 2 oder 3 noch die des § 24 Abs. 1 WO vor. Hinsichtlich der 14 Kundenberater der Beteiligten zu 8. ist im Termin der mündlichen Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht am 09.03.2011 unstreitig geworden, dass diese zum Zeitpunkt der Wahl in der Regel im Hauptgebäude arbeiteten und nur einer dieser Kundenberater wechselnd in G. eingesetzt wurde. Für einen dieser Kundenberater hätten mithin ggf. die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 WO vorgelegen, nicht jedoch für alle die des § 24 Abs. 2 oder 3 WO.

Die Voraussetzungen der Briefwahl lagen auch für die 135 Busfahrer und 20 Mechaniker der Beteiligten zu 9. nicht vor. Der 2,5 bis 3,1 km vom Hauptsitz der Beteiligten zu 7. entfernt liegende Betriebshof und die Werkstatt der Beteiligten zu 9., stellen keine Betriebsteile gemäß § 24 Abs. 3 WO 2001 dar, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind. Entsprechendes gilt auch für die vier Eismeister sowie den Hallenmanager der 3,5 bis 4 km vom Hauptsitz entfernten Eisarena der Beteiligten zu 7. Zwar deckt sich der Begriff der räumlich weiten Entfernung nicht mit dem in § 4 BetrVG enthaltenen gleichlautenden Begriff, vielmehr ist der Begriff der räumlich weiten Entfernung im Sinne des § 24 Abs. 3 WO entsprechend dem Sinn und Zweck der Vorschrift, den Arbeitnehmern die Beteiligung an der Betriebsratswahl zu erleichtern, in einem weiten Sinne zu verstehen. Entscheidend ist insoweit, ob es den Arbeitnehmern der außerhalb des Hauptbetriebs liegenden Betriebsteile oder Kleinstbetriebe unter Berücksichtigung der bestehenden oder ggf. vom Arbeitgeber zur Verfügung zu stellenden zusätzlichen Verkehrsmöglichkeiten (Pendelbus) zumutbar ist, im Hauptbetrieb persönlich ihre Stimme abzugeben (Fitting, a.a.O., Rn. 18 zu § 24 WO). Von einer solchen Zumutbarkeit ist bei einer Entfernung der hier betroffenen Betriebssteile von lediglich 2,5 bis 4 km in der Stadt A-Stadt auszugehen (vgl. ebenso LAG Hamm vom 16.11.2007 - 13 TaBV 109/06 - AiB 2009, 588). Erst recht lagen für den nur ca. 150 m vom Hauptgebäude entfernten Infoshop in dem sechs Kundenberater/Ticketverkäufer der Beteiligten zu 9. beschäftigt sind, weder die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 noch die des § 24 Abs. 3 WO vor.

Die 20 Geodienstmitarbeiter sowie die sechs mit der Wartung der Straßenbeleuchtung beschäftigten Arbeitnehmer der Beteiligten zu 7. beginnen und beenden ihre Arbeit regelmäßig am Hauptsitz der Beteiligten zu 7. Sie sind deshalb nicht als Arbeitnehmer anzusehen, die als Reisende, Montagearbeiter im Außendienst oder Telearbeiter außerhalb des Betriebes tätig sind und im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden (BAG vom 29.01.1992 - 7 ABR 27/91 - AP Nr. 1 zu § 7 BetrVG 1972 Rn. 41 zu § 26 Abs. 2 WO 1972). Entsprechendes gilt für die 13 Kundenberater sowie die zwölf Techniker der Beteiligten zu 8. im Außendienst, die in der Regel ihre Arbeit am Hauptsitz der Beteiligten zu 7. aufnehmen und dort beenden. Schließlich hätten auch die sieben Alarmfahrer der Beteiligten zu 10., die ebenfalls ihren Dienst am Leitstand im Hauptgebäude beginnen und beenden, persönlich dort ihre Stimme abgeben können, sind mithin nicht als Außendienstler im Sinne des § 24 Abs. 2 WO anzusehen.

Soweit der Beteiligte zu 6. schließlich darauf abhebt, dass etliche der von den Beteiligten zu 7. bis 10. beschäftigten Arbeitnehmer im Schichtdienst arbeiteten, weshalb nicht absehbar gewesen sei, ob sie am Wahltag im Betrieb anwesend sein würden, ist dies allein kein Grund, eine allgemeine Briefwahl anzuordnen. Der Wahlvorstand muss die Öffnungszeiten des Wahllokals für die persönliche Stimmabgabe auf die Arbeits- und Schichtzeiten des Betriebs einrichten. Dies war dem ausweislich der Anlage zum Schriftsatz der Antragsteller vom 07.03.2011 (Bl. 331 d. A.) aus fünf Mitgliedern bestehenden Wahlvorstand, der zudem Wahlhelfer bestellen kann, auch zumutbar. Darüber hinaus kann jeder Arbeitnehmer, der im Zeitpunkt der Wahl wegen Abwesenheit vom Betrieb verhindert ist, nach § 24 Abs. 1 WO Briefwahl beantragen. Allein der Schichtdienst, der in der Mehrzahl der betriebsratsfähigen Betriebe üblich sein dürfte, kann jedenfalls nicht dazu führen, für alle Arbeitnehmer Briefwahl anzuordnen. Deshalb lagen auch für die fünf in der Notrufzentrale im Hauptgebäude beschäftigten Arbeitnehmer, die unstreitig nur zum Schichtwechsel die Notrufzentrale verlassen durften, die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 oder 3 WO nicht vor. Sie konnten mindestens bei Arbeitsbeginn oder Schichtwechsel persönlich ihre Stimme abgeben.

2.2.2.2 Die Anfechtung der Wahl ist nicht nach § 19 Abs. 1 letzter Halbsatz BetrVG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift berechtigen Verstöße gegen wesentliche Wahlvorschriften ausnahmsweise dann nicht zur Anfechtung der Wahl, wenn ein solcher Verstoß das Wahlergebnis objektiv weder ändern noch beeinflussen konnte. Dafür ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne Verstoß gegen wesentliche Vorschriften unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Die Ausgestaltung der Wahlanfechtungsvorschrift des § 19 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz BetrVG nimmt Rücksicht darauf, dass in einer Vielzahl von Fällen die Beeinflussung durch einen Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften nicht positiv festgestellt werden kann, sich aber dennoch latent auf das Wahlverhalten auswirkt. Deshalb muss eine verfahrensfehlerhafte Betriebsratswahl nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei der Einhaltung entsprechender Vorschriften zum Wahlverfahren kein anderes Wahlergebnis erzielt worden wäre. Kann diese Feststellung nicht getroffen werden, bleibt es bei der Unwirksamkeit der Wahl (BAG vom 15.11.2000 - 7 ABR 53/99 - AP Nr. 10 zu § 18 BetrVG 1972). Das betrifft in erster Linie Fallgestaltungen, in denen etwa die Berücksichtigung nicht wahlberechtigter Arbeitnehmer oder die Nichtbeteiligung wahlberechtigter Arbeitnehmer rechnerisch die Reihenfolge der Gewählten nicht ändern kann (BAG vom 31.05.2000 - 7 ABR 78/98 - AP Nr. 12 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb Rn. 50 a).

Vorliegend ist angesichts dessen, dass eine persönliche Stimmabgabe jedenfalls der Mehrzahl der Mitarbeiter ohne weiteres hätte organisiert werden können, nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Wahlvorstand die generelle Anordnung der Briefwahl für erforderlich hielt. Die Missachtung der Vorgaben des § 24 WO durch Anordnung der generellen schriftlichen Stimmabgabe, und zwar auch für Arbeitnehmer und Betriebsteile, für die weder die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 noch 3 WO vorliegen, lässt nicht darauf schließen, dass hierdurch das Wahlergebnis insgesamt objektiv weder beeinflusst noch hätte geändert werden können (§ 19 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz BetrVG). Wahlergebnis ist die Feststellung, welche Arbeitnehmer Betriebsratsmitglieder sind. Nur wenn dieses Ergebnis aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten der Wahl im Übrigen nicht beeinflusst sein kann, reicht der Verstoß gegen wesentliche Vorschriften im Sinne des § 19 Abs. 1 erster Halbsatz BetrVG nicht aus, um die Wahl für unwirksam zu erklären.

Bei der gebotenen hypothetischen Betrachtung (Wahl ohne Verstoß) kann unter Berücksichtigung der konkreten Umstände nicht angenommen werden, dass eine persönliche Stimmabgabe zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei persönlicher Stimmabgabe sowohl die Wahlbeteiligung wie auch die Wahl selbst anders ausgefallen wäre. Durch die persönliche Stimmabgabe sollen insbesondere Wahlmanipulationen verhindert werden. Im Übrigen kommt es bei Zulassung einer schriftlichen Stimmabgabe zu zeitlich versetzten Wahlen, wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass Arbeitnehmer anders votiert hätten, wenn sie erst am Wahltag ihre Stimme persönlich abgegeben hätten (siehe BAG vom 27.01.1993 - a.a.O.). Zwar hat die Liste 2 mit insgesamt 38 Stimmen obsiegt, es hätten sich jedoch nur 19 Arbeitnehmer anders entscheiden müssen, und es wäre ein Stimmengleichstand beider Listen erreicht worden. Darüber hinaus haben sich von insgesamt 505 nach dem Wahlausschreiben wahlberechtigten Arbeitnehmern nur 400 Arbeitnehmer, mithin 79,2 % an der Wahl beteiligt. Auch insoweit ist nicht auszuschließen, dass sich das Verhältnis von Wählern zu Nichtwählern bei persönlicher Wahl anders dargestellt hätte. Zudem konnte sich durch die Zeitversetzung bei der Briefwahl ein anderes Wahlergebnis ergeben (zur möglichen Beeinflussbarkeit der Betriebsratswahl durch die reine Briefwahl siehe auch LAG Hamm vom 16.11.2007, a.a.O.).

Angesichts dieses bereits zur Unwirksamkeit der Betriebsratswahl führenden Wahlverfahrenverstoßes konnte offen bleiben, ob die Betriebsratswahl vom 15.03.2010 noch mit weiteren Fehlern behaftet ist.

III.

Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde sind nicht gegeben.