Entsendung eines Ersatzmitgliedes zu einer Schulungsveranstaltung

BAG 6 ABR 64/83 vom 15. Mai 1986

Leitsatz

1. Auch ein häufig herangezogenes Ersatzmitglied des Betriebsrates kann gemäß § 37 Abs. 6 BetrVG zu einer Schulungsveranstaltung entsandt werden, wenn der Erwerb der dort vermittelten Kenntnisse unter Berücksichtigung der Ersatzmitgliedschaft für die Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit des Betriebsrates erforderlich ist.

2. Bei Prüfung der Erforderlichkeit der Entsendung eines Ersatzmitgliedes zu einer Schulungsveranstaltung ist neben der Vermittlung eines sachbezogenen Wissens ua die im Zeitpunkt der Beschlußfassung zu erwartende Tätigkeit künftiger Vertretungsfälle und die noch verbleibende Amtszeit des Betriebsrates zu berücksichtigen. Dem Betriebsrat steht bei seiner Entscheidung ein Beurteilungsspielraum zu.

Gründe

I. Der Angestellte Sch. hat im Betrieb der Antragsgegnerin bei den Betriebsratswahlen im Mai 1981 auf einer Vorschlagsliste für die Gruppe der Angestellten an siebter Stelle kandidiert. Von dieser Liste sind die ersten sechs in den aus fünfzehn Mitgliedern bestehenden Betriebsrat gewählt worden.

Nach Konstituierung des Betriebsrates traten mit Ausnahme der ersten drei Sitzungen ständig Verhinderungsfälle von gewählten Betriebsratsmitgliedern auf, so daß der Angestellte Sch als Ersatzmitglied bis Februar 1982 an den weiteren sechs Betriebsratssitzungen teilnahm. Bis Januar 1983 fanden zehn weitere Betriebsratssitzungen statt, von denen er an neun als Stellvertreter teilnahm. Diese Vertretungsfälle beruhten im wesentlichen darauf, daß das Betriebsratsmitglied V. von September 1981 bis Juni 1982 fortlaufend arbeitsunfähig krank war und erst nach einer Genesungskur die Arbeit im Juli 1982 wieder aufnehmen konnte, wobei die Arbeit in der Zeit vom 7. März bis 20. April 1983 jedoch erneut wegen einer Kur unterbrochen werden mußte. Das Betriebsratsmitglied F war in den Monaten Februar, März und April 1983 krank. Schließlich war das Betriebsratsmitglied Fr. wegen seiner Funktion als Ressortleiter der Zeitung Express am Sonntag aus dienstlichen Gründen häufig bei den Betriebsratssitzungen verhindert.

Die Antragstellerin veranstaltete in der Zeit vom 13. bis 19. Juni 1982 eine Betriebsräteschulung mit dem Thema "Die Betriebsverfassung in der praktischen Anwendung", an der das im Betrieb der Antragsgegnerin beschäftigte Ersatzmitglied Sch aufgrund eines Beschlusses des Betriebsrats vom 1. Februar 1982 teilnahm. Die Antragstellerin stellte für die während der Schulung gewährte Unterkunft und Verpflegung, verauslagte Fahrtkosten und Reisespesen insgesamt 513,80 DM in Rechnung. Mit schriftlicher Abtretungserklärung trat das Ersatzmitglied Sch diesen Anspruch aus § 37 Abs. 2, 6§ 40 Abs. 1 BetrVG gegen die Antragsgegnerin an die Antragstellerin ab. Die Antragsgegnerin hat die Übernahme dieser Kosten abgelehnt.

Die Antragstellerin hat vorgetragen, das Ersatzmitglied Sch müsse auch mit weiteren Vertretungsfällen für die drei Betriebsratsmitglieder aus der Gruppe der Angestellten rechnen, die auf einer konkurrierenden, gewerkschaftsunabhängigen Vorschlagsliste gewählt worden seien. Allein die Addition der Urlaubsansprüche erlaube die sichere Vorhersage, daß der Angestellte Sch ständig als Vertreter für verhinderte Betriebsratsmitglieder herangezogen werden müsse.

Die Antragstellerin hat beantragt, die Antragsgegnerin zu "verurteilen", der Antragstellerin DM 513,80 nebst 4 % Zinsen zu zahlen.

Die Antragsgegnerin hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen und geltend gemacht, die Erstattung von Schulungskosten eines Ersatzmitgliedes komme allenfalls dann in Betracht, wenn dieses gleichsam in den Betriebsrat nachgerückt sei. Dies sei jedoch nicht der Fall.

Arbeits- und Landesarbeitsgericht haben den Antrag abgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Verfahrensziel erster Instanz weiter, während die Antragsgegnerin um Zurückweisung der Rechtsbeschwerde bittet.

II. Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des landesarbeitsgerichtlichen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Verfahrens an das Landesarbeitsgericht.

1. Das Landesarbeitsgericht hat den Anspruch auf Erstattung der Schulungskosten verneint und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, die Tatsache, daß ein Ersatzmitglied in der Vergangenheit häufig an Sitzungen des Betriebsrats teilgenommen hat, reiche nicht aus, einen Freistellungsanspruch für dieses Ersatzmitglied zur Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung zu rechtfertigen. Vielmehr müsse im Zeitpunkt der Beschlußfassung des Betriebsrats über die Entsendung eines Ersatzmitglieds zu einer Schulungsveranstaltung und auch noch zum Zeitpunkt der Teilnahme des Ersatzmitglieds an dieser Veranstaltung die Prognose gerechtfertigt sein, auch in Zukunft werde es für längere Zeiträume häufig zu Vertretungsfällen kommen. Diese Voraussetzungen seien im Streitfall nicht erfüllt. Der Umstand, daß der Beteiligte Sch erstes Ersatzmitglied ist, mache künftige Vertretungsfälle zwar sehr wahrscheinlich, reiche für eine sichere Prognose jedoch nicht aus. Im Zeitpunkt der Schulungsveranstaltung seien keine konkreten Anhaltspunkte gegeben gewesen, die die Annahme rechtfertigten, daß der Beteiligte Sch auch zukünftig für längere Zeiträume als Ersatzmitglied herangezogen werde.

2. Diese Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist vom rechtlichen Ausgangspunkt insofern nicht zu billigen, weil es für den Anspruch des Betriebsrats auf Freistellung eines Ersatzmitglieds von seiner Tätigkeit für die Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung gemäß § 37 Abs. 6 BetrVG in Übereinstimmung mit der Literatur darauf abstellt, im Zeitpunkt der Beschlußfassung durch den Betriebsrat und unzutreffenderweise darüber hinaus müsse auch noch im Zeitpunkt der Schulungsveranstaltung die Prognose gerechtfertigt sein, daß sich für das Ersatzmitglied für längere Zeiträume des öfteren Vertretungsfälle ergeben. Letzteres genügt jedoch nicht, den Freistellungsanspruch für ein Ersatzmitglied zu begründen.

a) § 37 Abs. 6 BetrVG räumt dem Betriebsrat als Kollektiv die Berechtigung ein, über die Freistellung von Betriebsratsmitgliedern zu beschließen, deren Schulung für die Tätigkeit im Betriebsrat erforderlich ist. Dem einzelnen Betriebsratsmitglied ist im Unterschied zu § 37 Abs. 7 BetrVG kein Recht auf Freistellung für eine Schulung eingeräumt worden. Von daher kann es nicht darauf ankommen, ob das nach der Auffassung des Betriebsrats zu schulende Mitglied ordentliches oder nur nach § 25 Abs. 1 Satz 2 BetrVG zur Zeit Stellvertreter für ein verhindertes Mitglied ist. Entscheidend ist vielmehr, ob der Erwerb der Kenntnisse durch eine Schulung auch unter Berücksichtigung der Ersatzmitgliedschaft vom Betriebsrat für die zukünftige Gewährleistung seiner Arbeitsfähigkeit für notwendig erachtet werden durfte. Dies hängt sowohl mit dem künftigen Aufgabengebiet zusammen, das dem Ersatzmitglied übertragen werden soll, wie auch mit der Häufigkeit und Dauer seiner Betriebsratstätigkeit, aber auch mit der Größe des jeweiligen Betriebsrats. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß der Betriebsrat grundsätzlich ein Ersatzmitglied nicht für den Fall einer durch Urlaub oder den Eventualfall durch Erkrankung bedingter Vertretung eines Betriebsratsmitglieds schulen lassen kann. Für diese Fälle hat der Betriebsrat in der Regel durch innerorganisatorische Maßnahmen Vorsorge zu treffen, daß seine Arbeitsfähigkeit gewährleistet ist. In Ausnahmefällen jedoch, in denen innerorganisatorische Maßnahmen wegen Unvorhersehbarkeit des Vertretungsfalls oder aus sonstigen Gründen nicht möglich sind, kann der Betriebsrat, um seine Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten, auch ein Ersatzmitglied an einer Schulungsveranstaltung gemäß § 37 Abs. 6 BetrVG teilnehmen lassen, wenn die bei der Schulung zu vermittelnden Kenntnisse für die sachbezogene und effektive Arbeit im Verhältnis zur zukünftigen Amtszeit erforderlich sind. Dabei ist der Betriebsrat immer gehalten, nicht nur die Erforderlichkeit im Hinblick darauf zu prüfen, was an Kenntnissen vermittelt wird, sondern auch darauf, ob die Kenntnisse im Interesse einer sachgerechten auf die gesamte Amtszeit bezogenen Betriebsratsarbeit auch gerade dem für eine Schulung auszuwählenden Ersatzmitglied zu vermitteln sind. Jede Auswahlentscheidung des Betriebsrats hat daher notwendigerweise einen Prognosespielraum, dessen Grundlagen ausgewiesen werden müssen und einer gerichtlichen Beurteilung nicht entzogen sind.

b) Bei der Frage, ob ein Ersatzmitglied zu einer Schulungsveranstaltung zu entsenden ist, weil für die Betriebsratsarbeit erforderliche Kenntnisse vermittelt werden sollen, handelt es sich um einen unbestimmten, einen gewissen Beurteilungsspielraum des Betriebsrats einschließenden Rechtsbegriff. Da die Einräumung des Beurteilungsspielraums darin liegt, daß der Betriebsrat die Frage der Erforderlichkeit nicht nach seinem subjektiven Ermessen, sondern aus seiner Entscheidungssituation unter Abwägung der Interessen von Belegschaft und Betrieb zu beantworten hat (BAG, aa0), muß der Beurteilungsspielraum gleichermaßen für die Frage gelten, wessen Teilnahme erforderlich ist, wie dafür, ob unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles die Teilnahme eines Stellvertreters erforderlich ist, damit der Betriebsrat künftig seine Beteiligungsrechte sach- und fachgerecht ausüben kann. Wegen der Notwendigkeit des Betriebsrats, in einer bestimmten Situation entscheiden zu müssen, ist es daher auch unerheblich, ob aus späterer Sicht, rückblickend betrachtet, die Freistellungsentscheidung im streng objektiven Sinn erforderlich war, da anderenfalls dem Betriebsrat kein Beurteilungsspielraum verbliebe. Die gerichtliche Kontrolle muß sich daher darauf beschränken, ob ein vernünftiger Dritter unter den im Zeitpunkt der Beschlußfassung gegebenen Umständen eine derartige Entscheidung getroffen hätte.

3. Das Landesarbeitsgericht hat demgegenüber, was die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, rückblickend dem Betriebsrat vorgehalten, bei seinem Freistellungsbeschluß am 1. Februar 1982 nicht berücksichtigt zu haben, daß die seit September 1981 bestehende krankheitsbedingte Verhinderung des Betriebsratsmitglieds V im Juni 1982 beendet worden sei. Richtigerweise ist zu prüfen, ob der Betriebsrat im Zeitpunkt seines Beschlusses aus der Sicht eines verständigen Dritten davon ausgehen konnte, die Schulung des Ersatzmitglieds Sch werde die Arbeitsfähigkeit des Betriebsrates in Zukunft gewährleisten. Damit hängt untrennbar die Frage zusammen, daß es überhaupt zu Vertretungsfällen kommen wird und welche Betriebsratsaufgaben dem Ersatzmitglied zugeteilt werden sollen.

Da das Landesarbeitsgericht zu all diesen Fragen keine Feststellungen getroffen hat, muß die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen werden.